Panflöte macht Schule
18. Juni 2014Brief von Nzuzi-
16. September 2014Zunächst ein paar Eindrücke.
Die Stadt empfing uns so, wie sie immer ist: riesig, chaotisch, voller Leben, sehr afrikanisch in allem, für mich immer wieder spannend und wunderbar. Als erstes fielen mir diesmal ausgerechnet Buswartehäuschen ins Auge, neu aufgestellt entlang der großen Boulevards, wohl im ewigen Bemühen um eine gewisse Ordnung und „Hauptstädtigkeit“.
Diese Häuschen seien sehr praktisch, meinten unsere Freunde gleich, denn darin würden die Obdachlosen besser schlafen als auf der blanken Erde. Wenn das kein Argument ist!
Über der ganzen Stadt schwebt Tag und Nacht Musik, kräht dauernd in der Nähe ein Hahn, dringt pausenlos von irgendwoher ein vielstimmiges Gebet, diskutieren und gestikulieren an jeder Ecke die Menschen, und überall und immer spielen, schuften und toben Kinder. Es ist nie ganz still in Kinshasa, aber auch nirgendwo und zu keiner Zeit unerträglich laut. Was nur immer geredet, gesungen und gebetet wird! Gott jedenfalls, so denke ich immer, wird von den Kinois, den Einwohnern von Kinshasa, schwer mit Beschlag belegt. Es gibt auch wirklich viel für ihn zu tun, so groß ist die Not.
Gleich an unserem ersten Tag hieß es, wir sollten bloß nicht in die Innenstadt fahren, da es gerade in einem Militärcamp eine Schießerei gebe. Am folgenden Tag war von einer Bilanz von 14 Toten die Rede. Am Tag danach mussten wir dann doch mal in die Stadt fahren, und die Lage hatte sich beruhigt.
Als wir in Maluku einmal friedlich dasaßen und auf den beruhigend dahin strömenden Kongofluss schauten, rief plötzlich Mama Ngoma: „Das Boot! Die Flüchtlinge! Sie fahren!“ Daraufhin eilten wir alle zur nahen Anlegestelle und sahen wirklich ein völlig überladenes Schiff flussaufwärts davon schippern. Alle winkten und riefen, und es herrschte große Aufregung.
Auf meine Nachfrage hin erfuhr ich, dass es sich bei den Menschen auf dem Schiff um einen kleinen Teil von insgesamt Tausenden von aus der Republik Kongo (Brazzaville) ausgestoßenen Bürgern der Demokratischen Republik Kongo (Kinshasa) handelte. In einer groß angelegten Maßnahme waren von jetzt auf gleich alle aus der Demokratischen Republik Kongo stammenden Kongolesen aus Brazzaville ausgewiesen worden, ohne Unterschied (also ob mit gültigen Papieren oder ohne, ob in der Republik Kongo seit langen Jahren verheiratet oder erst kürzlich eingereist, ob in Arbeitsverhältnissen stehend oder arbeitssuchend usw.). Viele dieser Menschen stammten ursprünglich aus der Provinz Equateur im Inland, wohin auch das überladene Bootchen jetzt aufgebrochen war. In den folgenden Tagen sahen wir das Ausmaß dieser menschlichen Katastrophe. Unzählige Männer, Frauen und Kinder, die in Maluku auf dem Gelände des Polizeicamps – wenige Hundert Meter von unserem Sozialprojekt entfernt – im Freien lagerten, mit großem Engagement und doch notdürftig versorgt von Helfern des Kongolesischen Roten Kreuzes, von Mitarbeitern von ‚Ärzte ohne Grenzen‘ sowie von Ehrenamtlichen der verschiedenen Kirchen von Maluku.
Offiziell ist der kongolesische Staat für diese Flüchtlinge verantwortlich, da sie Bürger der D.R.Kongo sind. Diese Verantwortung wird auch angenommen, was allerdings die Menschen nicht vor katastrophalen hygienischen Bedingungen, vor Hunger und der Unsicherheit, was aus ihnen werden soll, schützt. Ich erzähle dies, weil wir so unvermittelt in dieses Drama hineingerieten. Im Kongo gerät man dauernd unvermittelt in irgendetwas hinein. Um einen herum ist so viel Wirklichkeit und notvoller Alltag, so viel Ausweglosigkeit, aus der doch mit aller Kraft ein Ausweg gesucht wird. Das macht mich oft sprachlos, ermöglicht aber auch die Chance und den Auftrag zu handeln. Staatsphilosophisch, ökonomisch, vielleicht sogar rechtlich mögen die Dinge im Fall der aus Brazzaville Ausgewiesenen klar gelagert sein. Was wir jedoch sahen, waren vor Hunger wimmernde Kinder mit ihren Müttern, die sich in großer Not überladenen Booten anvertrauten, mit dem Ziel einer ungewissen Zukunft.
Besuch im Waisenhaus.
Nach solchen Beobachtungen und Erlebnissen bin ich jedes Mal glücklich, wenn ich in unserem Waisenhaus ankomme. Glücklich, überhaupt anzukommen, zugegebenermaßen. Denn der Weg dorthin wird immer abenteuerlicher. Nach der Fahrt im überladenen Taxibus muss man auf ein Motorradtaxi („Moto“) umsteigen und etwa 10 km damit auf einer Sand- und Schlammpiste zurücklegen. Eigentlich ist die Strecke sehr interessant, vorbei an zahllosen Hütten, Marktständen und tropischen Bäumen aller Art; nur kann man vor lauter Festhalten, nicht Herunterfallen und auch noch nach links und rechts Winken und Lächeln nicht allzu viel wahrnehmen. Die Motos werden, außer dem Fahrer, mit mindestens zwei Passagieren besetzt. Diese Art der Fortbewegung bedeutet natürlich auch, dass wir alles, wirklich alles, was wir aus Deutschland ins Waisenhaus mitnehmen, am Ende in Rucksäcken auf solchen Motos dorthin balancieren – Kinderkleidung, Schuhe für die Mädchen, Spielsachen und Moskitonetze, Haushaltsgeräte und jede Menge Gummibärchen… Aber irgendwie sind wir bislang immer angekommen.
Neulich fuhr ich auf einem Motorradtaxi zusammen mit Mama Odile, einer langjährigen kongolesischen Freundin, ihrer achtjährigen Enkelin Marina, drei Rucksäcken – jeweils einer auf unseren drei Rücken –, fünf Ananas (Mama Odile), einem Ball (Marina) und einem Anzug mit Bügelfalten und Bügel (auf meinem Arm; schicke Spende aus Altenburg für einen der Mitarbeiter im Waisenhaus), und einem ziemlich flippigen Fahrer, der seine Arbeit wohl als lustige Alternative zu Bungee Jumping versteht. Wir alle drei in knöchellangen Röcken, weil sich das so gehört im Kongo, ungeachtet der Fortbewegungsmittel.
Die Kunst ist, den Rock nicht in die Speichen, den Knöchel nicht an den Auspuff und den Sand der Straße nicht in die Augen zu bekommen. Auf dieser Fahrt schrie mir Mama Odile, während ich und der Bügelfaltenanzug uns an ihr festklammerten, mitten in einem Schlammloch auf Lingala, ihrer Sprache, zu, dieser Tag sei ein besonderer Tag. Sie sei nämlich mit Papa Charles 35 Jahre verheiratet. Ich war gerührt von dieser schlichten Bemerkung. Mama Odile, die nie eine Schule besucht hat, deren winzige Hütte regelmäßig dem Tropenregen zum Opfer fällt, Mama Odile, die wie eine Löwin und immer mit Stolz und unumstößlichem Gottvertrauen, nie bettelnd oder unterwürfig, darum kämpft, ihre Familie durchzubringen, die dem Waisenhaus oder uns immer ein paar Früchte oder Erdnüsse bringt und damit eben Gebende und nicht nur Empfangende ist – 35 gemeinsame Jahre in dieser unwirtlichen, ständig bedrohten Lebenswelt. 12 dieser Jahre kenne ich die beiden, und wenn ich an Afrika denke, dann denke ich an Menschen wie Mama Odile und Papa Charles – und Marina, ihre hübsche, hellwache Enkelin, die auch nicht zur Schule geht. Die wirklich wichtigen Dinge erzählt mir Mama Odile immer, wenn wir zusammen Motorradtaxi fahren. Am Ende bin ich immer erleichtert und dankbar, im Waisenhaus anzukommen.
Dort ist es wunderschön. Eine lebensfrohe, grüne Oase im Staub und Chaos der Stadt.
Die Mädchen sind gesund und sprühen über vor Lebensfreude, Wissbegier und Bewegungsdrang. Eigentlich singen, tanzen, hüpfen und spielen sie den ganzen Tag, so empfinde ich es immer. Sie sind jetzt 7 – 16 Jahre alt, alle haben gut das Schuljahr abgeschlossen, vier von ihnen – Nzuzi Admira, Christenvie, Ferrole und Kerene – sogar als Klassenbeste. Zwei weitere, die 13-jährige Berly und die 14-jährige Patricia, haben sich durch das Schuljahr in der „École de Rattrapage“ gekämpft, der „Aufholschule“ für Kinder, die zuvor niemals eine Schule besucht hatten. Alle Mädchen sind versetzt worden, Nzuzi Admira und Tshanda nun schon in die 10. bzw. 11. Klasse, unsere Jüngste, Brenda, mit ihren 7 Jahren in die 3. Klasse. Eines Tages fand ich Brenda vor, wie sie am zweiten Tag hintereinander ganz allein den großen Hof des Waisenhauses fegte. „Brenda“, sagte ich überrascht, „du hast doch gestern schon gekehrt. Bist du schon wieder dran?“ „Nein, eigentlich nicht“, antwortete Brenda, die zarte Kleine, hinter ihrem Besen, der doppelt so groß schien wie sie selber, „heute ist Morette dran, aber sie war so müde, da mache ich es eben für sie.“
Dabei lächelte sie mich an, als täte sie das Selbstverständlichste auf der Welt.
Das Waisenhaus ist wirklich, wie wir es uns immer gewünscht haben, zu einem Ort des Friedens, des Schutzes und der sicheren Entwicklung für die Mädchen geworden.
Die Mitarbeiter, nach wie vor 2 Frauen und 5 Männer, machen ihre Arbeit mit Freude, Engagement und gegenseitigem Respekt. Dies wirkt sich sehr positiv auf die gesamte Atmosphäre aus. Seit einem Jahr kommt zweimal pro Woche eine Schneiderin ins Haus und unterrichtet die älteren Mädchen, die dafür Interesse haben, in „Coupe et Coûture“, Schneiderei. Vier Mädchen nehmen dieses Angebot wahr: Tshanda, Patricia, Berly und Francoise. Die Nähmaschine, die wir vor zwei Jahren für das Waisenhaus kauften, erfüllt also gut ihren Zweck. Alle Mädchen bilden zusammen einen Chor, geleitet von Nzuzi Admira. Jeden Sonntag singen sie im Gottesdienst in der nahe gelegenen Kirchgemeinde, zu der sie sich zugehörig fühlen. Einmal hatten wir zahlreiche Bücher – Kinderbücher, Kinderlexika, Jugendbücher etc. – ins Waisenhaus mitgebracht (in Rucksäcken auf Motorradtaxis…), die wir vom Institut Francais in Leipzig für die Mädchen geschenkt bekommen hatten. Wunderbare Bücher, der Stolz des Waisenhauses. Neulich sah ich Nzuzi Admira auf der Wiese sitzen, umringt von 6 oder 7 der kleineren Mädchen, und mit einem dieser Bücher. Jedes der Mädchen las, abwechselnd, einen Abschnitt in französischer Sprache. Das fällt ihnen nicht leicht. Admira half und verbesserte geduldig. Ich hörte eine Weile zu und meinte dann zu Admira, sie mache das ja toll mit den Kleinen. Sie strahlte mich an und sagte: „Es sind doch meine Schwestern.“
Mir ist bei diesem Besuch mal wieder aufgefallen, dass 20 eine wirklich gute Anzahl für so ein Haus ist. Es sind nicht zu viele, so dass leicht die Nöte oder die Bedürfnisse eines einzelnen Mädchens aus dem Blick geraten könnten. Es sind auch nicht so wenige, dass sich die Mädchen gegenüber ihrer natürlichen sozialen Umgebung als etwas Herausgehobenes fühlen könnten. Sie wachsen wirklich ganz normal in Kinshasa-Kisenso auf. 20 ist genau richtig. Wobei… Jetzt sind es 21 Kinder.
Wir haben nach dem Sonntagsgottesdienst am 27. Juli einen vierjährigen Jungen ins Waisenhaus aufgenommen. Der kleine Nathan war im Gottesdienst von Michaux, dem Evangelisten, der Gemeinde vorgestellt worden mit den Worten, der Junge sei von seinen Eltern verlassen worden und brauche jetzt dringend irgendjemanden, der sich um ihn kümmere. Der Vater, ein Soldat, habe die Familie bereits vor längerer Zeit verlassen, die Mutter habe Anfang der Woche die Hütte zugeschlossen und sei fortgegangen. Übrig geblieben sei Nathan. Pascal, der Leiter unseres Waisenhauses, und ich verständigten uns im Gottesdienst mit Blicken dahingehend, dass wir bereit seien, den Kleinen aufzunehmen. Die letzten Tage hatte er bei einer sehr armen Frau Unterschlupf gefunden, die in der gleichen Straße wohnt wie Nathan und Mitleid mit dem Jungen hatte. Für die Kirchgemeinde wie für das ganze Stadtviertel ist es ein gutes Zeichen, dass das Waisenhaus ein so offenes Haus ist, in dem immer zu helfen versucht wird und in dem eine Willkommenskultur gelebt wird. In diesem Fall waren wir zunächst unsicher, ob Nathan als Junge würde bleiben dürfen, da bislang die Sozialbehörden immer Wert darauf gelegt hatten, Mädchen und Jungen getrennt unterzubringen. Doch wir konnten glaubhaft in Aussicht stellen, dass Nathan mit in das neue Waisenhaus für kleinere Kinder in Maluku ziehen kann, wenn es, hoffentlich im Frühjahr 2015, bezugsfertig sein wird. Daraufhin erhielten wir ein Schreiben des Bürgermeisters mit der Erlaubnis, Nathan ins Waisenhaus in Kisenso aufzunehmen. Die Mädchen sind glücklich über den süßen kleinen Bruder, den sie nun verwöhnen können, und Nathan war gleich zwei Tage später mit uns allen im Zoo und wurde zusehends vergnügter und zutraulicher.
Die Arbeit im Waisenhaus also läuft sehr gut, fröhlich und reibungslos, was ein großes Geschenk ist. Ich merke, dass es gut ist, Zeit im Waisenhaus zu verbringen, unverplante Zeit im Gespräch mit den Mitarbeitern und im Spiel mit den Mädchen. Die Mädchen haben einen alten Tischkicker geschenkt bekommen, mit dem sie leidenschaftlich spielen. Zwar sind einige der Fußballspieler kopflos, der eine Torwart hat ganz und gar das Spielfeld verlassen, und man klemmt sich beim Spielen ziemlich die Finger, ich jedenfalls. Doch dieser Kicker ist ein wunderbarer Ort, wo die Mädchen beim Spielen unvermittelt anfangen, mir etwas von sich zu erzählen, von ihrer Herkunft, ihren Eltern, ihren Gedanken und Träumen. Mir liegt das: sich ganz nebenbei Wichtiges anzuvertrauen, ohne überhaupt zuzugeben, dass man sich unterhält; bei diesen Gelegenheiten kann ich wachsam und zugewandt auf die Mädchen eingehen. Das tut uns allen gut. Einige der Mädchen sind durch ihre Vorgeschichte schwer traumatisiert, was man erst nach und nach im alltäglichen Miteinander wahrnimmt. Einige haben besondere Begabungen, was auch erst deutlich wird, wenn man eine Weile mit ihnen zusammen ist. Die 15-jährige Nzuzi Admira zum Beispiel, die seit vielen Jahren im Waisenhaus lebt, ist ein ausgesprochen kluges, aufmerksames, liebevolles Mädchen. Für die Kleineren ist sie eine wertvolle Erzieherin, und wir überlegen, ob es möglich wäre, sie in drei Jahren nach ihrem Schulabschluss auf ein Institut für Lehrerfortbildung zu schicken. Talente sollen doch gefördert werden, auch bei unseren Mädchen im Waisenhaus. Voller Wärme und interessiert haben die Mädchen sich nach allen erkundigt, die sie in den vergangenen Jahren besucht haben. Besuch aus Deutschland ist ihnen sehr wichtig und wertvoll, einfach, weil sie sich dadurch eingebunden fühlen in den Kreis der Menschen weltweit. Das Wissen um Freunde in weiter Ferne hilft ihnen zum Leben, nicht weniger als das.
Das Schulprojekt in Maluku.
Und nun also Maluku. Die Mädchen im Waisenhaus sprechen liebevoll von „unserer Schule in Maluku“. Nicht nur die Mitarbeiter, sondern auch die Mädchen haben das Sozialprojekt richtig als zu ihnen gehörig angenommen. Die Baustelle in Maluku wird immer schöner. Zwei der drei Schulgebäude sind, bis auf die Wandfarbe und die Innenausstattung, fertiggestellt und passen sich gut der Umgebung an. Die Schultoiletten und das Schulverwaltungsgebäude stehen noch im Rohbau da, ebenso die Klärgrube. Dietlind Frenzel, unsere Bauingenieurin, die sich seit Jahren ehrenamtlich und wunderbar um das Sozialprojekt kümmert, hat tagelang zahllose Diskussionen geführt: mit dem Bauherrn, dem Baustellenleiter, einem Mitarbeiter des Sägewerks SIFORCO und direkt von der Baustelle aus immer wieder telefonisch mit meinem Mann in Deutschland. Ziel war und ist es, die Bauarbeiten bis zum 13. Oktober, dem Tag der Eröffnung der Schule, etwas zu beschleunigen.
Im Augenblick kratzen wir jeden Euro zusammen, um mit dem Bau, zumindest mit dem Nötigsten, in Maluku voranzukommen und zugleich ja immer weiter die normalen Aufgaben des Vereins zu tragen, das Waisenhaus, Schulgeld-Verpflichtungen, anfallende Notfall-Krankenkosten etc. Das heißt, gebaut wird, wenn und soweit Geld da ist. Aber die Schule braucht Toiletten und auch einen ordentlichen und trockenen Raum als Bibliothek, in dem die 700 Grundschulbücher gelagert werden können, die zur Zeit per Schiff auf dem Weg nach Kinshasa sind. Diese Bücher sind ein tolles und in Maluku sehnlich erwartetes Geschenk aus Frankreich, das wir gemeinsam mit einem weiteren großartigen Geschenk, 6 Schulwandtafeln der Firma SPONETA aus Schlotheim, einem Containerschiff anvertraut haben. Sonst tragen wir ja alle Spenden mühevoll und gerne selber in den Kongo, aber 700 Schulbücher und 6 Schulwandtafeln passten einfach in keinen Koffer.
(Inzwischen, Anfang September, da ich diesen Bericht schreibe, ist alles wohlbehalten in Kinshasa angekommen.)
Am 13. Oktober 2014 wird die Schule mit einer 1. Klasse eröffnet werden. In dem Moment, als ich diesen Satz geschrieben hatte, erreichte uns eine Mail von Dieter Haag, dem Direktor des Sägewerks SIFORCO, mit der für uns völlig überraschenden Mitteilung, soeben seien 25 Schulbänke in den Klassenraum der 1. Klasse gebracht worden. Sie seien ein Geschenk von seiner Frau und ihm zum Schulbeginn im Oktober. Haben wir uns gefreut!! Die Grundschule wird, wie alle Grundschulen im Kongo, sechs Schuljahre umfassen. Ihr Name ist: „Complexe Scolaire, École primaire, « Elikya na biso ». Das ist Lingala und heißt „Hoffnung für uns“. Die Unterrichtssprache wird von der 1. Klasse an Französisch sein. Das ist im Kongo außergewöhnlich; normalerweise wird erst ab der 3. Klasse Französisch gelehrt bzw. in französischer Sprache unterrichtet.Überhaupt wird die Schule zugleich eine ganz normale und eine besondere Schule sein.
Im Juli haben wir das Leitbild und die Schulordnung erarbeitet und verabschiedet. Die Schule wird eine Schule des Friedens und der Ermutigung sein, ein Raum des angstfreien, interessierten Lernens und der Entwicklung der Kinder je nach ihren Fähigkeiten und Bedürfnissen. Eine so konzipierte Schule wird den Kindern in der impulsarmen Umgebung, in der sie leben, neue Horizonte eröffnen und ihnen Wege in ein selbstbestimmtes und zugleich empathiefähiges Leben ebnen. In einem interessanten Bewerbungsverfahren haben wir zwei Lehrerinnen zum Probeunterricht eingeladen. Wir hatten drei unserer Mädchen aus dem Waisenhaus, Marthe, Charly und Brenda, mit zum Auswahlverfahren nach Maluku genommen. Die drei spielten die Schulklasse für den abzuleistenden Probeunterricht der beiden Kandidatinnen, was sie mit großer Aufregung und wunderbar gemacht haben. Wir alle hatten unsere Freude an ihnen. Am Ende haben wir eine 39-jährige, sympathische, dem Eindruck und der Ausbildung nach kompetente und auch einfach liebe Lehrerin ausgewählt, die im Umfeld der Schule wohnt und die vergangenen 6 Jahre erste Klassen an einer staatlichen Grundschule unterrichtet hat.
Mama Lydie und die Schulkinder.
Mama Lydie wird also die Lehrerin sein. Ich denke, sie wird sich durchsetzen und zugleich die Schüler fördern und fordern können. Ihr Französisch ist gut und ihre Ausstrahlung warmherzig.
Mama Lydie begleitete dann gleich an den folgenden drei Tagen unsere Mitarbeiter bei der Auswahl der Schülerinnen und Schüler. Ursprünglich war angedacht worden, Familien in Maluku per Aushang zur Anmeldung ihrer Kinder einzuladen. Das ist das im Kongo übliche Verfahren. Doch dann entschieden wir uns, von Hütte zu Hütte zu gehen und wirklich die Kinder aus den ärmsten und bedürftigsten Milieus auszusuchen. Es leben in dem weitverzweigten Umfeld der Schule Tausende von Kindern, Söhne und Töchter von Fischern, Kleinsthändlern, Soldaten, Polizisten und Arbeitslosen.
Das Einschulungsalter entspricht im Kongo dem Alter bei uns. So wollten wir Kinder aufnehmen, die vor Ende Juli 2008 geboren sind. Das Auswahlkomitee konnte sich vor Anfragen und Bitten gar nicht retten. Schon jetzt eilt der Schule ein guter Ruf voraus. Mama Ngoma berichtete, noch in der Nacht würden Leute bei ihnen zuhause klopfen und um Aufnahme ihres Kindes in die Schule bitten. Ganz bewusst hatten wir uns entschieden, auch körperbehinderte Kinder aufzunehmen.
Der Stand am letzten Tag unseres Aufenthalts im Kongo war, dass die 1. Klasse aus 51 Kindern besteht, 26 Jungen und 25 Mädchen. Alle diese 51 Kinder und ihre Eltern habe ich in einer ersten Schulversammlung am 30. Juli gesehen und gesprochen, ich habe jedes Kind fotografiert, was den Eltern ganz wichtig war, und von allen haben unsere Mitarbeiter einen Aufnahmebogen mit den auch bei uns üblichen Angaben angefertigt. Allerdings stellte ich dann bei der Durchsicht der Aufnahmebögen fest, dass einige der Kinder nicht zu den Jahrgängen 2006 bis 2008, auf die wir uns geeinigt hatten, gehören, sondern Jahrgang 2009 sind. Wahrscheinlich wollten die Eltern die Chance ergreifen, um ihre Kinder in der Schule unterzubringen. Aber ich denke, diese ganz Kleinen sollten bis zum kommenden Jahr warten.
Das heißt, die Anzahl der Kinder und die Zusammensetzung der Klasse wird sich bis zum Oktober eventuell noch einmal etwas ändern. Pascal, unser Leiter, wird gemeinsam mit Mama Lydie, der Lehrerin, die Familien der fünfjährigen Kinder noch einmal besuchen und dann von Fall zu Fall entscheiden.
Das Schulkonzept.
Die Schule wird eine Ganztagsschule sein. Die Kinder werden von Montag bis Donnerstag von 8-16 Uhr und am Freitag von 8-12 Uhr in der Schule sein. Am Vormittag soll es nach Möglichkeit Milch oder zumindest Tee und Brot geben. Der eigentliche Schulunterricht, in dem die im Lehrplan für Grundschulen im Kongo vorgeschriebenen Fächer unterrichtet werden müssen, wird von 8-12 Uhr stattfinden und folgende Fächer beinhalten:
– Schreiben und Schönschrift
– Lesen und Auswendiglernen von Gedichten („Récitation“)
– Zählen und Rechnen
– Feldbestellung und Gartenarbeit
– „L’Étude de Milieu“, eine Mischung aus Ethik und Heimat- und Sachkunde
Auf „Étude de Milieu“ wird im Kongo großen Wert gelegt.
Anschließend wird es eine Pause geben, und von 13-16 Uhr wird ein Horterzieher die Kinder in Sport, Musik und Kunst unterrichten und sie im gemeinsamen Spiel fördern. Aus mehreren Gründen haben sich unsere Mitarbeiter für ein solches Ganztagsschulmodell entschieden: Es ist ihnen – und uns – wichtig, dass die Kinder, anders als in anderen Schulen üblich, in musischen Fächern, in Kunsterziehung und Sport unterrichtet werden. Und: Diese Kinder sind es gewöhnt, schon sehr früh zuhause hart mitarbeiten zu müssen. Die Schule soll auch ein Schutzraum für sie sein, wo sie angstfrei lernen, lachen und unbeschwert sein können. Damit sich dieser Traum so verwirklichen lässt, ist bis zum Oktober noch viel zu tun: Die Kinder brauchen Schultaschen und Sportkleidung, und wir müssen Milch, Tee und Brot für das Frühstück organisieren und irgendwie finanzieren. Die Kinder in Maluku bekommen zuhause vor der Schule kein Frühstück, denn dafür sind die Eltern zu arm. Eine Trommel würden wir gerne kaufen. Auch bin ich der Meinung, es wäre gut, wenn wir 17 Schaumstoffmatratzen hätten, auf denen die Kinder sich in der Mittagshitze ausruhen könnten. So planen wir zurzeit hin und her, freuen uns auf den Schulstart am 13. Oktober und registrieren unruhig, wie viel bis dahin noch zu besorgen und zu bedenken ist.
Die Schuleröffnung.
Diese Schule der Hoffnung, wie sie so treffend heißt, ist wirklich ein durch und durch ‚handgefertigtes‘ Projekt. Jeden einzelnen Punkt überlegen und entscheiden wir in sehr konstruktiver Gemeinschaft mit unseren Mitarbeitern des Waisenhauses und jetzt auch mit Mama Lydie, der Lehrerin. Jeder wird angehört, jeder kann seine Ideen und Talente einbringen, niemals ist irgendeine Meinung wichtiger als eine andere.
Dieses „Wir“, von dem ich rede, sind wir alle, für die dieses Projekt in Maluku unser Sozialprojekt ist. Jeder, der mitdenkt und sich auf die eine oder andere Weise einbringt, sei es hier im Verein „Hilfe für Menschen im Kongo“ oder in unserem Partnerverein „Hospice des Enfants Abandonnés“ in Kinshasa. Und, je länger und je intensiver wir miteinander arbeiten, planen, verrückte Ideen entwickeln und auch lachen und feiern, umso partnerschaftlicher gestaltet sich die Arbeit. Und das wiederum merkt man der Arbeit wirklich an – in der Schule in Maluku, wie sie so liebevoll und phantasievoll entsteht, und im Waisenhaus, das den Mädchen ein echtes Zuhause geworden ist.
Als am 30. Juli die Mütter und Väter mit ihren kleinen Schulanfängern zur Schulversammlung kamen, brachten sie in warmen Worten ihre Dankbarkeit darüber zum Ausdruck, dass es diese Schule der Hoffnung, „École Elikya na biso“, nun gibt. Sie dankten allen, die bei der Realisierung des Sozialprojekts helfen und brachten ihre Bereitschaft und ihren festen Willen zum Ausdruck, als Elternschaft tatkräftig hinter dieser Schule zu stehen, die ihren Kindern durch den Weg der Bildung eine Chance auf ein Leben in Würde gibt. Diese Eltern, die selbst im Teufelskreis der Armut gefangen sind, sehen in unserer Schule der Hoffnung einen Ausweg für ihre Kinder aus dem Teufelskreis. Welch ein Vertrauensvorschuss! Die Eltern hatten ihre Kinder frisch gewaschen und frisiert, ihnen die allerbesten – vielleicht geborgten – Kleider angezogen und sie besonders hübsch gemacht. Man sieht den Kindern auf den Fotos nicht an, welch bittere Armut und Not sie unentrinnbar umgibt. Ernst und würdevoll schauen sie in die Kamera. Vielleicht ist das eines der Geheimnisse des kongolesischen Volkes: Menschen lassen sich durch ihre miserablen Lebensumstände nicht klein machen; würdevoll und stolz meistern sie ihr Leben unter Bedingungen, die mich zum Verzweifeln bringen würden.
Diese menschliche Größe geben sie schon an ihre kleinen Kinder weiter. Diese Würde, verbunden mit guter Bildung in vertrauensvoller Atmosphäre, mit Ermutigung und der Möglichkeit, eigene Stärken zu entwickeln, ist doch eine wunderbare Voraussetzung für ein selbstbestimmtes, achtsames Leben.
Die Mädchen unseres Waisenhauses werden am 13. Oktober schulfrei bekommen. Sie werden, neben einer beachtlichen Anzahl geladener Gäste, bei der Schuleröffnung dabei sein und ein Theaterstück aufführen, das sie zurzeit schreiben. Es geht um die Begegnung von Kindern, die das Privileg haben, eine Schule zu besuchen, mit anderen Kindern, die auf dem Feld schuften, auf dem Markt verkaufen oder vor der Hütte sitzen. Auf dem Markt bekommen letztere zu wenig Wechselgeld heraus, weil sie nicht rechnen können; auf dem Feld werden ihre kleinen Rücken ganz krumm, und zuhause gibt es kein einziges Buch, mithilfe dessen sie sich selbst das Lesen beibringen könnten.
Unsere beiden begabtesten Theaterspielerinnen, die Schwestern Christenvie (12 Jahre) und Marthe (11 Jahre), schreiben das Stück, das sie sich selbst so ausgedacht haben. Wie die große Mehrheit der Kongolesen sind auch diese beiden fröhlichen Schwestern, die ich über die Jahre sehr liebgewonnen habe, wahre Überlebenskünstlerinnen, im Spiel wie im Leben.
Auf diese Weise machen wir einfach weiter, dort wie hier, Schritt für Schritt, immer mit der gleichen wohldurchdachten, gemeinschaftlichen Ausrichtung der Projekte, immer mit großer Motivation, mit Geduld und dem im Kongo hilfreichen Humor. Wie ich uns kenne, werden wir ab dem 2. Schultag im Oktober das neue, zweite Waisenhaus in Maluku konkret bedenken und beginnen. Es wird sehr schön werden. Auch darauf freuen wir uns und sind viel entspannter als mit der Fertigstellung der Schule, da die Finanzierung des Waisenhauses wunderbarerweise gesichert ist. Davon werde ich im nächsten Bericht im Oktober erzählen.
Christine Hauskeller, 07.09.2014
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